Wenn in Frankreich etwas Besonderes bevorsteht wie der Schulanfang oder Weihnachten, dann bringen die Franzosen ihre Freude über das kommende Ereignis mit einem Countdown zum Ausdruck. „Jour -1“ bedeutet: noch ein Tag bis zum großen Ereignis. Heute ist wieder mal so ein J-1. Doch diesmal steht der J-1 nicht im Zentrum von Vorfreude, heute ist der Tag vor unserer Reconfinementierung. Seit gestern Abend ist klar, dass der J-1 wieder bedeutet Abschied nehmen zu müssen von Freiheiten, die uns im Juni wieder geschenkt worden waren. Ab morgen gelten wieder Attestationen, verschärfte Ausgangsregeln- genauere Details liefert uns wahrscheinlich eine Pressekonferenz, die unser Premierminister Castex- unser bewährter Philippe wurde zwischenzeitlich durch Macron ausgetauscht- heute Mittag hält.Wenn eine Rede an die Nation angesetzt wird, dann wissen wir alle, was die Uhr geschlagen hat. Und spätestens nach den fast schon zeremoniellen Schlussworten „Vive la Republique! Vive la France!“, herrscht in CoronaZeiten ein paar Sekunden betretenes Schweigen und man hört fast durch die Häuserwände das tiefe Durchatmen unserer Nachbarn. Genauso war es gestern Abend. Nur hat unser Präsident den beiden Schlusssätzen mit geballter Faust und festem Blick einen anderen vorangestellt: „Nous sommes la France!“ Er hat nicht wieder dem Virus wie im Frühjahr rhetorisch „den Krieg“ erklärt, sondern an das appelliert, was Frankreich ausmacht, was unseren Blauberg und Sarreguemines ausmacht: den Zusammenhalt. Wir werden es auch dieses Mal zusammen mit Abstand schaffen, den Ausbruch des Virus einzudämmen. Wie lange wir brauchen, das steht in den Sternen- aber wir werden sie wieder leben, die französische Solidarität. Nous sommes la France! Die Zaungeschichten gehen weiter, morgen am J-0 des zweiten Confinements. Bleibt gesund wo immer ihr seid. Restez en bonne santé!
Schlagwort: moselle
Tag 54/55 der Ausgangssperre
Der letzte Tag.. noch 16 Stunden
Als mich vor ein paar Jahren ein Schüler fragte: „Frau Becker, wo wohnen sie eigentlich?“ Da erzählte ich ihm die Geschichte eines vergessenen Landes. Vom alten, weisen Kaiser Karl, der über ganz Europa herrschte und seinem Sohn Ludwig ein riesiges Reich hinterließ. Der vermochte es das Reich mit Güte zu regieren. Doch dann starb auch Ludwig- sein ältester Sohn Lothar sollte neuer Kaiser werden, doch damit waren die anderen beiden Söhne nicht einverstanden. Sie zankten sich unaufhörlich. In Verdun kam es zu einem Treffen, bei dem sie sich wieder vertragen sollten, aber es kam anders. Es kam zur Aufteilung des Reiches in das Frankenreich im Westen, das Heilige römische Reich im Osten und in der Mitte das Reich Lothars. Lothar wollte so immer schlichten können, wenn sich seine Brüder stritten. Die drei Teile waren ungefähr gleich groß, aber die beiden Brüder Lothars waren nicht zufrieden. Sie waren eifersüchtig und neidisch auf Lothar und so kam es, dass Krieg begann. Die Brüder entfremdeten sich völlig, sie wurden gar zu Feinden und es ging immer nur um Macht, die Königswürde, den Kaiser und immer auch um Lothars Land mit Kohle und Erz. Lothars Land war schwach geworden durch die vielen Kriege, Lothar längst vergessen. Frieden hatte keine Chance- so vererbte sich die Feindschaft zwischen den Ländern, der einstigen Brüder von Generation zu Generation. Es dauerte über 1000 Jahre bis endlich Frieden war zwischen den beiden Brüdern. Dauerhafter, guter Frieden. Aber manchmal gibt es heute noch Sticheleien zwischen den Ländern, der alten Brüder, Deutschland und Frankreich. Aber heute keiner denkt mehr daran Kriege zu führen- mitten in Europa. Und wo ich wohne, fragst du? Ich wohne im übrig gebliebenen Teil von Lothars Reich, in Lothringen- dort, wo so viele Kriege stattfanden, dort, wo so viele Menschen immer wieder ihre Heimat verloren. Mittlerweile gibt es keine Region mehr, die Lothringen heißt- wir sind alle GrandEst geworden. Nur wenige erinnern sich an das Lothringen von früher- aber die tapferen Menschen, die hier wohnen kennen ihre Geschichte und sie bleiben Lothringer- für immer. Und egal, ob wir Deutsche oder Franzosen sind, wir müssen uns gemeinsam immer wieder daran erinnern, dass wir alle eine europäische Familie sind, alle Kinder des großen Kaisers Karl.
Unser Confinement endet in 16 Stunden. Der Countdown läuft. Unsere ausgedruckten Attestationen verlieren heute Nacht ihren Sinn und wir werden wieder ein Stückchen freier. Vielen Dank, dass ihr all die Tage mitgelesen habt! Danke für die lieben Kommentare und die vielen aufmunternden Worte. Sie haben uns manchmal getragen durch diese sehr intensive Zeit. Mein Blog aus dem Confinement in Frankreich endet hier. Aber die Zaungeschichten gehen weiter- wenn ihr wollt. Mein Leben verlief immer irgendwie am Zaun, am Bretterzaun des Nachbarn, an der Grenze zu Deutschland oder am BlaubergZaun, von dem ich euch all die Tage berichtet habe. Und wenn ihr- während ihr wieder zu Cora oder wie sie alle heißen fahrt- mal kurz an Lothar und die Menschen hier denkt, dann würd’s mich freuen. Also haltet mir den europäischen Gedanken in Ehre- er sichert uns den Frieden.
Wenn Ihr Interesse an der gedruckten Form einer Auswahl der Geschichten habt, dann schreibt es in die Kommentare oder per PN an mich.
Bleibt gesund! Bis demnächst am Zaun!
Tag 52 der Ausgangssperre
Einmal mehr ist Geduld gefragt. Jeden Abend um 20:00 Uhr hupt jemand in einer Nebenstraße von uns. Wir wissen nicht wer das ist, wir wissen nicht, wo er parkt und wir wissen nicht für wen er hupt. Gestern Abend holte er Julie, Eric, Sascha und mich durch sein Gehupe aus der Diskussion über die Pressekonferenz von Premierminister Phillipe. Er und verschiedene seiner Regierungskollegen haben den Beginn der Entkonfinementierung am 11. Mai, am kommenden Montag, verkündet. Nach so vielen Tagen der Abschottung hatten wir sehnsüchtig darauf gewartet. Nach der Konferenz trafen wir uns anschließend alle am Zaun.
Nicht nur Sascha und ich haben mehr Lockerungen erwartet, freuten uns schon mit unseren Hunden wieder durch die Parks in Sarreguemines oder den nahen Wald zu schlendern. Eric und Julie sind auch etwas enttäuscht- die Parks und Gärten bleiben wahrscheinlich noch bis 2. Juni geschlossen, der Zugang zu den Seen der Umgebung bleibt uns bis auf weiteren Erlass verwehrt. Der Grund ist die Klassifikation „rot“ auf der Frankreichkarte des französischen Gesundheitsministers. Der große Osten Frankreichs ist knallrot, d.h. das Confinement wird bei uns länger dauern als in anderen Regionen- in Paris ,in der Region Ile de France, sieht es ähnlich aus und im ÜberseeDepartement Mayotte. Die Zirkulation des Virus ist zwar geringer geworden, aber sie ist immer noch da. Die Intensivstation und sind immer noch ausgelastet. Die französische Regierung hat entschieden, dass wir langsam machen müssen. Immerhin- unsere Bewegungsfreiheit erhöht sich ohne Attestation- Ausgangsschein- auf 100 km innerhalb des Departements -„Luftlinie“- auf Französisch heißt es VogelFluglinie „vol d’oiseau“.
Irgendwie kommt es in CoronaZeiten oft anders, als man denkt. Schade, ein Leben nach Corona lässt also in der Region GrandEst noch auf sich warten. Die französische Grenze bleibt geschlossen bis zumindest 15. Juni, bis zum Erlass einer neuen Verordnung. Da die deutsche Regierung die Grenze auch nicht öffnet, bleibt es also beim Status Quo. Immer noch keine Pflanzen aus dem Gartencenter auf der anderen Seite der Grenze. Ich bleibe wohl auch weiterhin der „Hundefutter-Dealer“ der Straße- so nennt mich zumindest Melody scherzhaft. Nur die Grenzgänger dürfen die Grenze überschreiten, zum Zwecke der Arbeit. Das ist auch das Einzige, bei dem sich heute wirklich etwas für Sascha und mich geändert hat. Wir leben jetzt seit über 50 Tagen im Confinement- wir haben uns arrangiert, ehrlich- wir haben es genossen zusammen zu sein. Und dann kam der Anruf, dass Sascha wieder zur Arbeit muss. Wir waren hin und hergerissen zwischen „Juhuu, es geht wieder los!“ und „Ach, schade, die Ruhe ist vorbei!“.
Ich nehme an, dass die Huperei in der anderen Straße auch mit der Arbeit desjenigen zu tun hat, dem sie gilt. Vielleicht wird er zur Nachtschicht abgeholt? Den Dreien geht es wahrscheinlich ähnlich- dem, der abends hupt, derjenige der abgeholt wird und Sascha, der heute früh wieder zur Arbeit gefahren ist- alle müssen wieder zurück in den Trott. Meine Arbeit begann heute wieder früh um sieben, an meinem Computer, mit dieser Geschichte aus dem Confinement in Frankreich.